Ziege

Ziegen melken, auch ohne Zicklein

In Frankreich führt das FiBL ein Forschungsprojekt zur natürlichen Laktationsinduktion bei Ziegen durch. Ein Paradigmenwechsel zugunsten des Wohlergehens von Tier und Mensch

31.5.2024

Dieser Artikel ist im BioAktuell, Ausgabe 01/24, erschienen.

Ziegen, die kein Zicklein geboren haben, dazu bringen, Milch zu produzieren. Die Idee mag absurd und illusorisch erscheinen. Sie ist jedoch durchaus realistisch und Gegenstand einer Studie, die das FiBL Frankreich in Zusammenarbeit mit der Stiftung VIER PFOTEN durchführt. «Einige Tiere sind tatsächlich in der Lage, nachdem sie trockengestellt wurden, eine Laktation zu beginnen, ohne trächtig gewesen zu sein oder ein Zicklein geboren zu haben, und das völlig selbstständig», sagt Felix Heckendorn, Nutztierwissenschaftler und Präsident des FiBL Frankreich.

Die in der Praxis beobachtete natürliche Laktationsinduktion bei nicht trächtigen Ziegen ist ein Phänomen, das in der Vergangenheit nur wenig untersucht wurde. «In den 1960er- Jahren befasste sich die Forschung mit der künstlichen Stimulation einer Laktation durch Hormone zur Steigerung der Milchproduktion», so Felix Heckendorn. Heute beschäftigen sich die Tierhalterinnen und -halter vermehrt mit der natürlichen Laktationsinduktion. Sie sind auf das Tierwohl bedacht und bereit, ihre Praktiken weiterzuentwickeln, um mehrere Probleme zu lösen. Caroline Constancis, Leiterin des Forschungsprojekts am FiBL Frankreich, erklärt: «In Frankreich steht die Ziegenbranche, was die Vermarktung der Zicklein betrifft, vor einem Problem. Das Angebot übersteigt die extrem geringe Nachfrage bei Weitem, und die Covid-Krise hat die Situation noch verschärft.» Eine Verringerung der Geburten ohne Beeinträchtigung der Milchproduktion wäre daher ein Segen für die Landwirtinnen und Landwirte.

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Vermeidung vorzeitiger Ausmerzungen
Nebst dem geringen Marktwert der Zicklein treten in der Ziegenhaltung häufig Fruchtbarkeitsprobleme auf, die mitunter die Rentabilität einer Herde erheblich beeinträchtigen. «Die Ausmerzung einer Ziege, die nicht trächtig wird, stellt aus wirtschaftlicher Sicht einen reinen Verlust dar. Ganz zu schweigen vom emotionalen und ethischen Aspekt: Sich vorzeitig von einem Tier zu trennen, widerspricht manchmal den Werten der Halterin oder des Halters, die eine enge Bindung zu ihren Tieren aufbauen und sich nicht von ihnen trennen möchten», so Caroline Constancis.

Um dieses Problem anzugehen, wird in der Ziegenhaltung immer häufiger die lange Laktation praktiziert. Diese Praxis, die darin besteht, das Tier nicht trockenzustellen und manchmal über Jahre «durchzumelken», wirft jedoch Fragen auf, da das Euter nie ruht. Den Tieren diesbezüglich eine Pause zu gönnen, könnte laut Felix Heckendorn eine gute Lösung sein, um die Nutzungsdauer der Ziegen zu verlängern. Dasselbe gilt, wenn es um die Trächtigkeit geht: «Wir beobachten, dass jede Trächtigkeit Stress bedeutet. Dieser schwächt das Tier und beeinträchtigt langfristig dessen Gesundheit.»

Aufgrund dieser Feststellungen haben Ziegenhalterinnen und -halter mit dem FiBL ein On-Farm-Forschungsprogramm ins Leben gerufen mit dem Ziel, das Phänomen der Laktationsinduktion zu verstehen und seine Reproduzierbarkeit zu untersuchen. «Der erste Teil des Projekts, der zwischen 2021 und 2022 unter dem Namen ‹Lactodouce› durchgeführt wurde, lieferte uns den Beweis, dass durch Stimulation der Zitzen und unter bestimmten Bedingungen die Laktation bei einer nicht trächtigen trockenstehenden Ziege tatsächlich wieder einsetzen kann», sagt Felix Heckendorn. Der 2023 initiierte zweite Teil des Projekts mit dem Titel «Gentle Dairy» zielt darauf ab, die Mechanismen der Mammogenese und Laktogenese besser zu verstehen. «Die Rasse, wiederholte Geburten, die Präsenz von Zicklein in der Herde, stimulierende Pheromone und der Weidebeginn sind Faktoren, von denen wir annehmen, dass sie einen Einfluss auf die Laktationsinduktion haben.»

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Ein kollektives Forschungsprotokoll 
In den nächsten Monaten werden Caroline Constancis und ihr Team etwa zehn Betriebe in den französischen Departements Isère, Drôme und Ardèche im Süden der Region Auvergne-Rhône-Alpes betreuen, die jeweils zwischen vier und zwölf Ziegen für die Studie zur Verfügung stellen. «Die Tierhalterinnen und -halter sind voller Erwartungen», betont Projektleiterin Caroline Constaneis. «Sie sind bereit, das Risiko eines Milchverlusts in Kauf zu nehmen, um durch die Teilnahme an der Studie Wissen zu erlangen und Erfahrungen zu sammeln.» Zudem, sagt sie, sei das Forschungsprotokoll gemeinsam verfasst worden, um möglichst nah an der Realität zu sein. 

Anne-Laure Vautrin, die in Aleyrac im Departement Drôme etwa vierzig Milchziegen hält, praktiziert die Laktationsinduktion bereits seit zwei Jahren. So wird diesen Winter nur jede zweite Ziege ihrer Herde ein Zicklein zur Welt bringen. «Die anderen werden gemäss Protokoll stimuliert», erklärt die Landwirtin, die davon ausgeht, dass bei den meisten ihrer nicht trächtigen Ziegen eine Laktation eingeleitet werden kann. Zudem, sagt sie, sei das Forschungsprotokoll gemeinsam verfasst worden, um möglichst nah an der Realität zu sein. «Die Induktion ist eine gute Lösung für die Fruchtbarkeitsprobleme. Endlich kann ich meinen nicht trächtigen Ziegen eine zweite Chance geben, statt sie auszumerzen und so herzzerreissende Trennungen von Tieren, die ich liebe, vermeiden – was meinen Beruf eindeutig erleichtert.» Die Tierhalterin weiss auch die geringe Anzahl an Geburten im Januar zu schätzen. Eine Beschränkung der Geburten sei aus wirtschaftlicher Sicht (Zickleinfleisch bringt keinen Gewinn), aber auch in Bezug auf den Arbeitsaufwand von Vorteil. Zudem werde der Krankheitsdruck im Stall verringert, wodurch weniger Gesundheitsprobleme und Tierarztkosten entstünden.

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Was ist mit Prolaktin und Cortisol?
Das Projekt sieht ebenfalls vor, bei den stimulierten Ziegen regelmässig die für die Laktation verantwortlichen Hormone Prolaktin und Cortisol im Blut zu bestimmen und die Dynamik der induzierten Laktation ohne vorherige Geburt im Detail zu untersuchen. Caroline Constancis zählt einige der behandelten Fragen auf: «Um wie viel geringer ist das produzierte Milchvolumen im Vergleich zu einer Standardlaktation? Weist die Laktationskurve auch einen Peak auf? Gibt es eine Korrelation zwischen Prolaktin und produziertem Volumen? Haben die Ziegen mit induzierter Laktation langfristig dasselbe Fruchtbarkeitspotenzial? Es wirft vielfältige Fragen auf, weil es zahlreiche Herausforderungen gibt.» Ziel der Forscherin ist es, das Phänomen so gut wie möglich zu dokumentieren.

Für Sébastien Linas und Céline Charbon, die in Py in den östlichen Pyrenäen etwa fünfzig Ziegen halten, ist die Laktationsinduktion Teil der Suche nach einer ethischeren Tierhaltung. «Das stärkste Zeichen, das ein Betrieb für das Tierwohl setzen kann, ist, ein Individuum nicht vorzeitig schlachten zu lassen», resümieren die zwei Tierhaltenden. Um die Anzahl der auf dem Hof geschlachteten Tiere zu verringern, praktizieren sie bereits die lange Laktation, indem sie die Zicklein bei der Mutter lassen. «Durch die Induktion werden zweieinhalbmal weniger Tiere geboren. Gleichzeitig wird dem Tier und dem Landwirt durch das Trockenstellen eine willkommene Pause gegönnt», sagen sie.

Die Milchproduktion ohne Trächtigkeit scheint zwar viele Probleme der Ziegenhaltung zu lösen, bleibt aber hinterfragbar. «Die Tierhaltung ist naturgemäss etwas vom Menschen Gesteuertes», so Sébastien Linas. Trotzdem sei die induzierte Laktation für die Tiere vorteilhaft, da weniger von ihnen verlangt werde. FiBL-Forscher Felix Heckendorn ergänzt, dass «wir die Pflicht haben, die Beziehung zwischen Mensch und Tier in ein besseres Gleichgewicht zu führen». Deshalb werde im «Gentle Dairy»-Projekt nebst der Funktionsweise einer induzierten Laktation auch das Wohlergehen der Ziegen beobachtet und beurteilt. 

Artikel: Claire Berbain; 
Übersetzung: Sonja Wopfner

«Kann viele Tierwohlprobleme vermeiden»

Tierschützerin Daniela Haager über die Vorteile der Laktationsinduktion 

Die Stiftung VIER PFOTEN engagiert sich mit dem FiBL im Projekt «Gentle Dairy». Warum?

Daniela Haager: Weil die Laktationsinduktion dazu beiträgt, die Milchziegenhaltung nachhaltig und tierfreundlich zu gestalten. Das Projekt passt perfekt zum 3R-Prinzip, also «Reduce, Refine, Replace», für das wir eintreten: Den eigenen Fleischkonsum reduzieren, ihn durch die Wahl zertifizierter Produkte aus artgerechter Tierhaltung verbessern und schliesslich Fleisch durch pflanzliche Alternativen ersetzen. Letztlich ist dies ein Schritt auf dem Weg zu einer gesunden, nachhaltigen Ernährung.

Aber die Induktion, auch ohne Hormone, bleibt eine vom Menschen gesteuerte Praxis. Wie passt das zu den Grundsätzen des Tierschutzes?

Diese Praxis sollte unbedingt in Betracht gezogen werden, da dadurch viele Tierwohlprobleme vermieden werden: Schlachtung von Ziegen nach kurzer Lebensdauer, Tötung von Zicklein nach der Geburt, Transport junger Zicklein über grosse Entfernungen zu industriellen Mastbetrieben, übertriebener Einsatz von Antibiotika und so weiter.

In welchem Rahmen unterstützt VIER PFOTEN das Projekt?

Finanziell, wir übernehmen 75 Prozent der Kosten, aber auch wissenschaftlich.

Interview: Claire Berbain;
Übersetzung: Sonja Wopfner

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